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Con gli occhi del forestiero

(Mit den Augen des Fremden)

An einem Morgen im Mai lag in unserem Briefkasten ein seltsames Paket mit einem deutschen Absender. Darin befand sich eine CD mit einem Brief, unterzeichnet von Erich Hochreuther aus Roth. Er hatte einen Artikel über La Streccia im Kudenmagazin der Soglio-Produkte gelesen. Zusammen mit seiner Frau Christa beschloss er daraufhin, uns eine Kopie seiner Vielzahl digitalisierter Diapositive zu überlassen, das Ergebnis einer langen Folge von Ferienaufenthalten in Soglio und im Bergell, beginnend in den siebziger Jahren bis zum Anfang des neuen Jahrtausends.

Für uns war das ein sehr wertvolles Geschenk, ein historisches Zeitdokument. Personen, Landschaften und Alltagszenen festgehalten aus dem Blickwinkel eines Fremden. Eines Aussenstehenden, der mit der Zeit die Atmosphäre des Dorflebens in einem Ort wie Soglio kennen und lieben gelernt hat. Eine zerbrechliche und schweigsame Wirklichkeit, die der Beobachter geliebt und von Augenblick zu Augenblick auf seinen Filmrollen oder im Reisetagebuch festgehalten hat, so als ob sie sich von dort nicht mehr fortbewegen könnten. Und es wird nicht mehr dasselbe sein, wenn in der Gegenwart die Ecken, Gerüche, bekannten Gesichter, die sich in das Gedächtnis des Reisenden eingeprägt haben, nicht mehr da sein werden ihn zu erwarten.

Die Reisen nach Soglio werden mit der Zeit sporadischer und immer schmerzhafter. Das Dorf hat sich sehr verändert. Der einst freundliche und beruhigende Rückzugsort ist für die Familie Hochreuther fast fremd geworden. In ihrer Abwesenheit nahmen die Dinge ihren Lauf, vielleicht schneller als es ihnen lieb war. Der Geruch von Ziegenmist ist aus den Gassen verschwunden. Ihr „Opa“, Herr Filschki, der Mann mit dem langen weissen Bart ist nicht mehr da, um sie aus dem Fenster heraus zu begrüssen. Der Treppenabsatz vor der Scheune, wo einst Herr Giovanoli sass und schnitzte, ist nun leer.

Es ist das Ende einer Ära. Aber die Veränderung ist Naturgesetz und das gilt auch für Soglio. Ein Dorf, das leben will, in die Zukunft blicken, mit dem Zeitgeist gehen, wie alle anderen auch. Und es ist richtig, dass es so ist.

Es bleiben die Erinnerungen zurück, die vagen Bilder, die sich ins Gedächtnis eingeprägt haben. Sich ins Bergell zurückzuziehen, ist überflüssig geworden, wenn man sich an diesen Bildern festhalten kann, ohne enttäuscht zu werden. Und im Laufe der Zeit ist der einst Fremde zum Freund geworden, der es auf seine Weise verstanden hat, dem Dorf und seinen Bewohnern die gleichen Gefühle zurückzugeben, die sie selbst ihm einst geschenkt haben.

Auf eine Art und Weise schliesst sich der Kreis und die Dinge kehren zurück an ihren Platz.


Foto: Erich Hochreuther © La Streccia

Foto: Erich Hochreuther © La Streccia

Foto: Erich Hochreuther © La Streccia

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